Dossiers | Autorentexte

Starke Figuren sind die, die Schwächen zeigen

Autor:in

Niccolò Castelli

Datum

21. Dezember 2022

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starkefiguren

(Antwort auf die Kolumne von Judith Frei 'Ich will «schwache» Frauenfiguren sehen', erschienen am 16. Dez. 2022 in der Solothurner Zeitung (siehe Screenshot unten))

Liebe Judith Frei, ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Ihr Artikel «Ich will ‘schwache’ Frauenfiguren sehen» vom 16. Dezember erlaubt mir, eine vieldiskutierte Frage anzusprechen: Was ist eine starke Figur im Film? Ich gebe es gleich zu: Charaktere ohne Schwächen langweilen mich. Wenn ich ein Drehbuch zu schreiben beginne, denke ich zunächst, meine Protagonistin oder mein Protagonist sollte sympathisch sein, beweglich, heldenhaft und voller Talente. Danach frage ich mich: Würde ich jemanden sehen und hören wollen, der nicht nuancenreich ist? Wie gelangweilt bin ich von denen, die mir dauernd zeigen, dass alles, was sie tun, richtig ist?

Ich gebe Ihnen recht, manchmal tappen auch wir in die Falle, dass wir einen Film, der uns gefallen hat, fördern wollen, indem wir das Beste aus der Figur herausholen. Wir reduzieren in unseren Beschreibungen die Figur so weit, bis am Ende des Films der Held oder die Heldin unsere Herzen berührt.

Aber ich versichere Ihnen, die starken Frauenfiguren, über die wir bei der Präsentation des Programms der nächsten Filmtage gesprochen haben, sind keine Super-Heldinnen. Es sind zum Beispiel junge Frauen, die in aller Stille nach sich selbst in der Sinnlichkeit suchen (Foudre), sie sind Migrantinnen, die zur Prostitution gezwungen wurden und versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen (Juste Charity), sie sind Frauen aus einem entlegenen Bergdorf, welche die Liebe im Angesicht eines langsamen Todes erfahren (Drii Winter), sie sind Angestellte einer Konservenfabrik, denen niemand Glauben schenkt (Until Branches Bend), sie sind Töchter auf der Suche nach einer Umarmung, von ihren Familien entfremdet, weil sie cholerisch sind (La Ligne), sie sind Mütter, die von der Liebe eines Mannes verängstigt wurden (Semret), sie sind sorgenfreie Jugendliche, die ein Mädchen verloren haben, das ihr Leben erhellt hat (Euridice, Euridice) oder sie sind Wissenschaftlerinnen, die sich über die Moral hinweggesetzt haben, um ein Sterben in Würde ermöglichen zu können (Elisabeth Kübler-Ross). Und die Liste könnte weitergehen. Diejenigen Frauenfiguren, die das Schweizer Kino porträtiert, sind stark, weil sie in ihrer eigenen Geschichte auch Schwächen zeigen.

Kultureller Wandel entsteht dadurch, dass Zweifel, Fehler, Niederlagen, Stürze zu einem grundlegenden Element des Lebens erhoben werden. Mit diesen Geschichten, die wir im Januar in der Barockstadt zeigen, werden wir uns, so hoffe ich, wahrer fühlen können. Ohne Angst, perfekt sein zu müssen. Liebe Judith Frei, ich hoffe, Sie im Publikum zu sehen und genauso hoffe ich, Sie können sich in einigen der Handlungen dieser Geschichten vielleicht wiedererkennen.
 

- Niccolò Castelli

 

Text_SolothurnerZeitung

Judith Frei, Solothurner Zeitung, 16. Dez. 2022

https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/stadt-solothurn/stadtbummel-ich-will-schwache-frauenfiguren-sehen-ld.2388022?reduced=true

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