Geschichten | Autorentexte

Heute wieder Frauenfilme!

Autor:in

Seraina Winzeler

Datum

19. Januar 2021

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BEHINDERTE LIEBE_Set

Heute wieder Frauenfilme!

«Frauenkunst – ein Reizwort», konstatierte 1986 ein von der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen veröffentlichtes Bulletin (1). Einige Jahre nach dem Höhepunkt der zweiten Welle der Frauenbewegung stellt Lili Sommer darin ein Desinteresse an feministischen Fragestellungen fest und beobachtet widersprüchliche Reaktionen von Künstlerinnen auf die Frage nach einer weiblichen Perspektive und der Notwendigkeit eines frauenpolitischen Engagements. Damals wie heute geht der Versuch, künstlerische Werke unter dem Nenner einer gemeinsamen Identität als «Frau» zu versammeln mit gewissen Ambivalenzen einher. Begriffe wie «weibliche Ästhetik» oder «Frauenfilm» waren bereits zeithistorisch Gegenstand kontroverser Diskussionen (2). Dennoch versammelt Film.Pionierinnen 1971–1981 erneut Filme von Frauen in einer gemeinsamen Retrospektive. Die Solothurner Filmtage schliessen damit sowohl an das letztjährige Programm Cinéma Copines als auch an Initiativen in Deutschland und Österreich an, wo 2019 die Filmfestivals Berlinale und Diagonale ähnlich ausgerichtete Reihen durchführten.

Film.Pionierinnen 1971–1981 eröffnet ein weites Feld offensichtlich (wieder) aktueller Fragen, die sowohl die Frauenbewegung im Allgemeinen als auch die spezifische feministische Auseinandersetzung mit dem Medium Film betreffen. Was ist überhaupt ein feministischer Film? Zu welchen Zeitpunkten erwacht und erlöscht ein Interesse an feministischen Fragestellungen und inwiefern sind die Thematiken der 1970er Jahre heute noch aktuell? Wo und wie erinnern wir uns an diese Filme? Und warum scheint es auch heute noch notwendig, Werke von Regisseurinnen unter dem gemeinsamen Label «Frau» sichtbar zu machen?

Beim Schauen dieser Filme fällt zunächst auf, dass sich mit ihnen exemplarisch Schweizer Filmgeschichte erzählen lässt. So arbeiten fast alle Regisseurinnen dokumentarisch und prägten damit eine damals entstehende und bis heute einflussreiche Tradition des Schweizer Filmschaffens. Thematisch wandten sich June Kovach, Tula Roy, Marlies Graf, Gertrud Pinkus oder Lucienne Lanaz der Gegenwart oder dem Fortwirken der Geschichte in der Gegenwart zu. Ihre auch auf der formalen Ebene innovativen Auseinandersetzungen mit Bildungs- und Erziehungsinstitutionen, globalen wirtschaftlichen Machtstrukturen, Klasse, Migration und Medien lösen problemlos ein, was der einflussreiche Journalist Martin Schaub als Merkmal des ab Mitte der 1960er Jahre entstehenden Neuen Schweizer Films bestimmte: Sie zielen auf die «soziale und politische Wirklichkeit des Landes» und machen in der genauen Beobachtung der «Banalität des Alltags» politische und gesellschaftliche Strukturen sichtbar (3). Wie es die breite zeithistorische Distribution und Rezeption ihrer Filme zeigt, stiessen sie damit einen kritischen öffentlichen Diskurs an. Die Regisseurinnen arbeiteten in der für die damalige Zeit typischen Organisationsform des Kollektivs und engagierten sich filmpolitisch und -kulturell für den Aufbau von Strukturen. So initiierte die bereits damals international erfolgreiche Künstlerin Isa Hesse-Rabinovitch 1975 das erste Schweizer Frauenfilmfestival. Carole Roussopoulos wiederum setzte das neue Medium Video für die politisch-aktivistische Filmarbeit ein, lange bevor in der Schweiz die mehrheitlich männlich geprägte Videobewegung entstand. Der ausschliessliche Fokus auf Filme von Frauen und die zeitliche Einschränkung auf die 1970er Jahren schärft so den Blick für die Relevanz dieser Werke. Mit der Fülle dieser zehn Filme wird man nicht länger behaupten können, dass es halt keine Regisseurinnen gegeben habe. Sie zu zeigen und wieder zugänglich zu machen, stellt die Grundlage einer Filmgeschichte dar, die diese Werke nicht länger an der Peripherie, sondern in ihrem Zentrum verortet.

Als «Frauenfilme» wurden solche Filme unter anderem bezeichnet, weil ihnen der Verdienst zukommt, bis dahin verborgen gebliebene Lebensrealitäten in die Öffentlichkeit gebracht zu haben. Cinéjournal au féminin (1981) und Maso et Miso vont en bateau (1976) führen es in ihren prägnanten Analysen der Schweizer Filmwochenschau und des Fernsehens exemplarisch vor: Von patriarchalen Ordnungen geprägte Räume und Strukturen schliessen bestimmte Erfahrungen und Perspektiven aus. Demgegenüber lässt Lady Shiva (1975) etwa eine Sexarbeiterin zu Wort kommen, Behinderte Liebe (1979) feministische Aktivistinnen der damaligen Behindertenbewegung, Il Valore della donna è il suo silenzio (1980) eine italienische Migrantin. Die hier sichtbar werdenden Erfahrungen sind jedoch nur vermeintlich marginal. Vielmehr entlarvt die partikulare Perspektive die scheinbare Universalität anderer Positionen. So ist das Verhältnis von Freizeit und Beruf, das in Il Valore della donna è il suo silenzio angesprochen wird, unter anderem Thema in dem nur zwei Jahre früher entstandenen Film Kleine Freiheit (1978) von Hans-Ulrich Schlumpf. Mit seinem präzisen ethnografischen Blick beobachtet der Regisseur darin drei Protagonisten beim Ausüben ihrer verschiedenen Hobbys. Was bei Schlumpf implizit anklingt, offenbart sich deutlich in der Gegenüberstellung der beiden Filme: Das aus der modernen Arbeitsteilung hervorgehende und für das 20. Jahrhundert als charakteristisch angenommene Verhältnis von Beruf und Freizeit ist offensichtlich eines, das nur Männer betrifft. Die italienische Arbeiterin Maria übernimmt in ihrer «Freizeit» Haushalt und Care-Arbeit. Vermutlich hat aber noch nie jemand Hans-Ulrich Schlumpf vorgehalten, er mache «Männerfilme».

Der ausschliessliche Fokus auf Filme von Frauen darf also nicht dazu führen, diese in einer gesonderten Filmgeschichte abzuhandeln. Vielmehr eröffnet das Nebeneinander unterschiedlicher Perspektiven neue Erkenntnisse. Dass diese Perspektiven – wie es heutige intersektionale feministische Positionen einfordern – vielfältig und divers sein müssen und es keine einheitliche Kategorie «Frau» gibt, deutete Cinéjournal au féminin bereits 1981 utopisch an: So treten am Schluss neben die Regisseurinnen zahlreiche weitere Personen ins Bild, die ebenso ihre Repräsentation in der Schweizer Filmwochenschau einfordern.

Das diesjährige Histoires-Programm ist in Partnerschaft mit der Cinémathèque suisse und in Kooperation mit dem Schweizer Nationalmuseum in Zürich entstanden. Alle Filme des Programms wurden in den vergangenen Monaten in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, der Edition filmo, einer Initiative der Solothurner Filmtage sowie dem Lichtspiel in Bern digitalisiert.  

(1) Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (Hg.): Frauenfragen/Questions au fémini/Problemi ai feminile, 9. Jg, Nr. 3, 1986, S. 19.

(2) Einen guten Überblick zu den Diskussionen in der Schweiz gibt Blöchlinger, Brigitte et al. (Hg.): Cut. Film- und Videomacherinnen in der Schweiz von den Anfängen  bis 1994: Eine Bestandesaufnahme, Basel 1995.

(3) Schaub, Martin: Film in der Schweiz, Zürich 1997, S. 54.

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