
Die Sektion «Fokus» der 61. Solothurner Filmtage ist diesmal extra kitschig. Gezeigt wird eine Auswahl internationaler Spiel- und Dokumentarfilme, die bewusst mit sentimentalen, künstlichen Mitteln spielen oder gesellschaftliche und politische Funktionen von Kitsch thematisieren. Begleitet wird das Filmprogramm durch Podiumsdiskussionen und Performances mit Gästen aus dem In- und Ausland.
Kein Kassenschlager ohne übergrosse Gefühle, glänzende Oberflächen und Produktionsbombast. Kitsch und Kino gehörten schon immer eng zusammen, zumindest im Mainstreamsektor. Aber auch das Arthauskino spielt seit den 1960er und 70er Jahren bewusst mit sentimentalen Formeln aus Kino, TV und Werbung. Autorenfilmer:innen wie Agnès Varda, Pedro Almodóvar, Daniel Schmid oder Chantal Akerman eigneten sich Kitschelemente an, um die Wertungen zu hinterfragen, die mit dem Geschmacksurteil verbunden waren, oder – umgekehrt – um Kitsch als Schmiermittel bestehender Geschlechter- und Gesellschaftsordnungen zu entlarven.
Heute scheint das Glitzernde, Seichte, Gefühlige und Gefällige – einst als «Unkunst» und «schlechter Geschmack» der Massen abgetan – allgegenwärtig. Filmkritiker:innen stöhnen mit zuverlässiger Regelmässigkeit über zu viel Kitsch in doch eigentlich der Filmkunst verpflichteten Festivalprogrammen. Gleichzeitig bekennen sich Kitsch-Liebhaber:innen offen zu ihrer «Schwäche». Etablierte Kultureinrichtungen betonen die fliessenden Grenzen zwischen Kitsch und Kunst, egal ob bei den Klassikern oder in der aktuellen KI-Kunst. Damit wird es immer schwieriger, zwischen subversiver Aneignung und kommerzieller Ausbeutung von unter Kitsch-Verdacht stehenden Gestaltungsmitteln zu unterscheiden. Das hat zuletzt die Diskussion über Nemos Auftritt beim Eurovision Song Contest gezeigt, gilt aber auch für Mainstreamfilme wie «Barbie» oder aktuelle kleinere Produktionen wie die queere Wohlfühl-Trilogie «Oslo Stories». Welche ästhetischen Normen gelten noch? An welche gesellschaftlichen Hierarchien sind sie geknüpft? Und wie gefährlich ist Kitsch in den Händen antidemokratischer Kräfte?
«Fokus»-Programm: Kunst oder Unkunst?
Die Sektion «Fokus» der Solothurner Filmtage umfasst zwei Programmteile. In einer Gesprächsreihe tauschen sich Filmschaffende aller Berufsgruppen – von der Regie über die Musik bis zum Set- und Kostümdesign – über ihre eigene Haltung zum Kitsch und ihre Erfahrungen mit Kitsch-Vorwürfen aus und diskutieren mit Kritiker:innen und Expert:innen aus Medienwissenschaft, Kunstgeschichte und Soziologie über die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung von Kitsch in Zeiten politisch aufgeladener Kulturkämpfe, einem wachsenden Verwertungsdruck auf Kultur und künstlicher Intelligenz als eine Art Kitsch-Maschine qua Algorithmen.
Die französische Regisseurin Lucile Hadžihalilović stellt ihren neuen Film «La Tour de Glace» vor, eine Liebeserklärung an die heilende Kraft des Kinos und die Märchenfilme der 1970er Jahre mit Marion Cotillard in der Hauptrolle.
Parallel zur Gesprächsreihe bietet das Filmprogramm eine Auswahl internationaler Spiel- und Dokumentarfilme, die sich bewusst unter Kitsch-Verdacht stehender Mittel bedienen oder die gesellschaftliche und politische Bedeutung kommerziell und ideologisch genutzter oberflächlicher Sentimentalität thematisieren wie etwa den Zusammenhang von evangelikalen Kinderpredigerin und Rechtspopulismus im Dokumentarfilm «The Voice of God» von Miguel Antunes Ramos.
Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf Kitsch in der digitalen Filmkultur. Das österreichische Medienkunstkollektiv «Total Refusal» gibt in einer Live-Performance Einblick in die Produktion seiner mehrfach prämierten «Machinimas», auf beliebten Videospielen basierenden Kurzfilmen, mit denen es die Machtverhältnisse unter den künstlichen (kitschigen?) Game-Oberflächen enthüllt.
Programmverantwortung «Fokus»: Julia Zutavern
Jährlich präsentieren die Solothurner Filmtage im Spezialprogramm «Fokus» internationale Filme zu einem aktuellen Thema. Am «Fokus-Tag» bieten jeweils Podien und Branchengespräche mit internationalen Gästen die Möglichkeit, das Thema zu diskutieren.
Das Programm «Fokus» wird von der Däster-Schild Stiftung unterstützt.