Anrührende Geschichten voller Sehnsucht, Schmalz und Biederkeit: Aktuelle Kinofilme triefen vor Gefühlen. Ist das noch Pathos oder schon Kitsch? Die internationale Programmreihe «Fokus» widmet sich dieses Jahr einem chronisch umstrittenen Geschmacksurteil.
Sonnenuntergänge und Gartenzwerge: Auf diese Kitschbeispiele können sich viele einigen. Ihre filmischen Entsprechungen sind… vielleicht «Sissi» und «Mad Max»? Kitsch, so die Expert:innenmeinung, kann alles sein, was als zu gefühlig, zu gefällig und zu seicht befunden wird. Die Frage ist nur: Wer befindet darüber? Und, vielleicht noch wichtiger: Wo liegt eigentlich das Problem? Was ist falsch an Herzschmerz und Bling-bling?
Heute ist Kitsch so allgegenwärtig und akzeptiert wie noch nie. Sowohl im Mainstream- als auch im Arthousekino wird es immer schwieriger, zwischen seiner subversiven Aneignung und kommerzieller Ausbeutung zu unterscheiden. Das haben Kinoerfolge wie «Barbie» gezeigt.
Wirklichkeitsflucht
Kitsch und Kino gehören von jeher zusammen. Opulente Ausstattungen, schnulzige Musik, rührselige Plots: Das Genrekino ist voll davon. «Intensive Gefühle» hätten sie zum Film gebracht, erklärte die französische Regisseurin Lucile Hadžihalilović kürzlich in einem Interview. Das mag sich im ersten Moment banal anhören. Doch ihre neue, düster-süss verschachtelte Märchenadaption «La tour de glace» macht deutlich, wie existenziell die Liebe zum Kino sein kann. Intensiv sind auch die Gefühle in «Fantasy». Das Coming-of-AgeDrama der für ihre Balkanpopvideos bekannt gewordenen slowenischen Regisseurin Kukla hebt den «Camp» – das Spiel mit Gender-Kitsch zur queeren Selbstvergewisserung – auf ein neues Level, an dessen Ende ein utopischer Ausweg winkt: die Auflösung der binären Geschlechterordnung.
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Kitsch ist ambivalent, selbst in seiner problematischen, manipulativen Form. Das zeigt der brasilianische Dokumentarfilmer Miguel Antunes Ramos in «A voz de Deus» am Beispiel der aggressiven Medien- und Marketingstrategien der weltweit wachsenden Neo-Pfingstbewegung mit einem besonderen Gespür für die Risse im System. Doch um einiges «problematischer als vorsätzlicher Kitsch» sei «das kitschige Bewusstsein», warnte der Kulturjournalist Alexander Grau vor wenigen Jahren in seiner Streitschrift über «politischen Kitsch» und versuchte dieses auch bei Klimaaktivist:innen auszumachen. Einen treffenderen Beleg seiner These liefern Sun Kim und Morten Traavik in ihrem Dokumentarfilm «North South Man Woman» am Beispiel der auch westlich von Korea – dem Schauplatz des Films – noch immer tiefsitzenden, medial verbreiteten Vorstellung vom grossen Glück in der Hetero-Ehe.
Subversion
Was also tun gegen populären Kitsch mit verblödender Wirkung? Das Arthousekino antwortet darauf seit den 1960er Jahren mit Aneignung und Umnutzung. Wegweisend war etwa Chantal Akermans quietschbunter Kaufhausreigen «The Golden Eighties». Das Prinzip funktioniert aber auch heute noch zuverlässig unterhaltsam: In «Ich will mich nicht künstlich aufregen» findet Max Linz den Kitsch ausgerechnet bei jenen, die ihn um jeden Preis vermeiden wollen, und das Wiener Medienkollektiv «Total Refusal» seziert lustvoll die hyperreale Gamingwelt.
Der aktuell wachsende Verwertungsdruck auf Kunst und Kultur, neue technische Möglichkeiten durch KI und eine seit geraumer Zeit gesamtgesellschaftlich zunehmende Aufwertung von Gefühlen und Empfindsamkeit verändern unsere ästhetischen Normen. Unter dem Schlagwort «Kitsch» geht der diesjährige Fokus diesem Wandel nach.